Der heilige Gral Stratocaster

Aus den USA kamen zu dieser Zeit ganz andere Gitarrenklänge über unsere Radios zu unseren Ohren und ließen uns teilweise einen Schauer über den Rücken laufen.

Ursprünglich hatte eine Gitarre die Form einer Acht zu haben – wie Konzertgitarren heute noch. Das war das klassische Instrument. Inzwischen aber – und das war sogar bei meiner Sorella schon so – hatten viele Gitarren an der Stelle, an der der Hals in den Korpus überging, einen sogenannten Cutaway, kurz Cut. Ich habe zuerst nicht verstanden, was das sollte, bis ich begriff, dass man an dieser Stelle mit der Griffhand in höheren Lagen spielen konnte, man konnte jenseits des zwölften Bundes auf dem Korpus weiter spielen – je nach Größe des Cut. Die Gitarren nahmen langsam merkwürdige Formen an, z.B. mit zwei Cuts – auf jeder Seite des Halsansatzes einer.
Da auch die Pickups ständig weiterentwickelt wurden und die ersten Brauchbarkeitserfahrungen beim Fronteinsatz dieser Gitarren gemacht wurden (Gewicht, Spielbarkeit, Größe, Publikumswirkung etc.), legte man bald nicht mehr so viel Wert auf den Eigenklang der Gitarre, sondern verließ sich mehr und mehr alleine auf die Pickups.
Es wurden Solidbody Gitarren gebaut. Gitarren, die keinen hohlen Korpus mehr hatten, sondern ein mehr oder weniger dünnes Brett. Meine erste Begegnung mit so einer Gitarre war Anfang der Sechziger hier in Berlin bei einem Typ, der hieß Ecki Kraft oder so ähnlich und spielte eine Framus Hollywood. Eine Brettgitarre! Ganz kleiner Korpus mit zwei Cuts. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Ich weiß nicht mehr, wie diese Hollywood damals geklungen hat, aber mein toller Gesamteindruck war sehr subjektiv durch dieses neue Erscheinungsbild und dem ganzen Drumherum.

Framus Hollywood

Brettgitarren kamen sehr schnell in Mode und der Vorreiter auf dem Musiksektor – die USA – legte schon einiges vor!
Buddy Holly hatte so ein Ding mit zwei ganz unterschiedlichen Cuts mit Rändern wie zwei verschieden lange Hörner, und einer Kopfplatte, bei der die Mechaniken alle auf der linken Seite waren – nicht drei links und drei rechts wie bei einer „ordentlichen“ Gitarre! Diese Kopfplatte war auch in eine Richtung geneigt und hatte eine neue Form, wie eine Zipfelmütze mit einer großen Bommel. Und rechts am Rand stand der Name dieser ungewöhnlichen Gitarre (wenn man nah genug herankam, um das erkennen zu können) Fender Stratocaster. Wobei das F zu allem Überfluss nun auch noch falsch herum da stand, nach links zeigend oder so.

Fender, Gibson und Gretsch waren die amerikanischen Gitarrenfirmen, deren Instrumente immer wieder im Fernsehen oder auf Plattenhüllen auftauchten und die für uns wie der heilige Gral waren. Und sie ruhten sich nicht lange auf ihren Lorbeeren aus, nein, sie brachten immer wieder neue Modelle auf den Markt, dass einem hier in West-Berlin die Sinne schwanden. Fender Telecaster, Fender Jazzmaster, Gibson Les Paul, Gretsch Country Gentleman... Vom Preis für uns unerschwinglich. Aber die kamen sowieso erstmal nicht nach West-Berlin.

Derweil waren unsere deutschen Gitarrenfirmen (Framus, Höfner etc.) bemüht (wie Jahrzehnte später die Japaner mit der Kopiererei unserer deutschen Fotoapparate), Billigkopien der amerikanischen Vorbilder zu produzieren und schnell auf den Markt zu werfen.

Ich kann mich noch erinnern, dass wir nach einem Wandertag zum Berliner Zoo mit unserem Klassenlehrer zurück zur U-Bahn-Station Nürnberger Ecke Augsburger Straße liefen und plötzlich an obiger Ecke das Musikhaus am Zoo sahen! Unser Lehrer hätte nichts dagegen machen können, wir mussten unsere Nasen lange an die Schaufensterscheiben pressen. Dort standen bunte, einfarbige und mit Brokatstoff (!) bezogene Gitarren nebeneinander aufgereiht, und wir kamen aus dem Staunen nicht heraus. Innerlich wurden bestimmt diverse Taschengeldberechnungen angestellt.

Gegen Ende der 50er Jahre hatten wir schon ein paar ganz sonderbare Töne von Gitarren gehört – die hallten so nach: Duane Eddy mit Peter Gunn und Rebel Rouser. Axel war von dem Tag an Duane Eddy Fan und gründete den ersten deutschen Duane Eddy-Fanclub. Das dicke Ende für mich kam aber noch 1960. Da kam eine englische (!) Band mit dem Namen The Shadows mit einem Stück namens Apache ins Radio und es zog mir die Beine weg!

Und es änderte schlagartig vieles in meiner und anderer Leute Gitarrenwelt. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich anfangs gewusst habe, dass das melodieführende Instrument eine Gitarre gewesen ist. Jedenfalls hatte ich einen derartigen metallischen Echoklang noch nie gehört. Das hatte mit unseren Lagerfeuer-Gitarren nichts mehr zu tun. Das Hören kam dabei auch erstmal lange vor dem Sehen. Einer erzählte mir damals, dass dieses Stück mit sieben(!) Gitarren gespielt wurde (vermutlich sollte das diesen Echoeffekt erklären, aber so war eben unsere Gerüchteküche damals). Der Sound fesselte mich und viele andere und sollte jahrelang die Grundlage für unsere Gitarren-Übungen werden.
Klar, dass sich alle Gitarristen meiner engeren Umgebung mit den Stücken der Shadows beschäftigten und es hier inzwischen ein größeres Interesse an Echo- und Hallgeräten gab. Zu dem Repertoire, das die meisten West-Berliner Rockbands an Wochenenden in den Bars und Kneipen spielten, gehörten deshalb auch immer mehrere Stücke von den Shadows und von Cliff Richard, der die Shadows als Begleitband hatte.

Auf den spärlich erscheinenden Abbildungen dieser Band sah man neben den von allen bewunderten Fender-Gitarren auch immer eine bisher unbekannte Verstärker-Art, die vorn mit einem dunklen Stoff bezogen waren, der ein gartenzaunähnliches Muster zeigte – Vox-Verstärker aus England, die später bei praktisch allen Beatbands im Hintergrund auftauchten.

Alle meine Ersterfahrungen auf einer Gitarre und die Neugier und die Energie, weiterzumachen und nicht das Handtuch zu werfen trotz schmerzender Finger, verdanke ich Hank Marvin, dem Leadgitarristen der Shadows!

Und den Mädchen auf Sylt natürlich!!

Auch wenn man hier und da die Musik von damals belächeln mag - es gibt genug berühmte Gitarristen, die Hank Marvin ähnlich schätzen und es gibt deshalb wohl auch eine (mindestens eine) Hank Marvin Tribute-CD, auf der weltberühmte Gitarristen jeweils eins seiner Stücke interpretieren.

Jetzt nahm die Zahl der Instrumentals im Radio und im Laden auf Schallplatten rasch zu und wir übten uns die Finger wund, um Apache und ähnliche Sachen gut zu kopieren.
Die Ventures tauchten auf mit dem Stück Walk, Don't Run. Die waren mal wieder aus den USA. Sie hatten nicht soviel Echo wie die Shadows, aber der Sound war trotzdem höchst interessant.
Erwähnen will ich unbedingt noch die Spotnicks, eine Band aus Schweden. Sie lenkten die Echogerätegeschichte in ihre ganz spezielle Richtung, machten auf Spaceklang und traten wohl auch anfangs in Raumanzügen auf. Als dann ihr Orange Blossom Special herauskam war ich platt – und nicht nur ich! Dieses Tempo konnte keiner von uns Gitarristen halten. Anatomisch unmöglich, dachte ich – geht gar nicht. Der muss da irgendwas im Studio gedreht haben, damit die Gitarre so schnell war. Das Stück war ja ein Country-Traditionell und wurde demzufolge auch immer wieder mal von Country Bands gespielt. Da war aber das melodieführende Instrument die Geige. Es war wohl eine Idee einfacher zu fiedeln, und außerdem spielten sie das in der Regel etwas langsamer. Ich habe das Stück mal von Chet Atkins, DEM Country-Gitarristen gehört, und siehe da, der Herr spielte es mit Fingerpicking. Das ging natürlich auch ziemlich schnell.
Nichts desto Trotz – das Spotnicks-Stück war der Hammer! Und sie legten noch nach in dem Tempo! Um 1960 herum haben sie bei uns in Berlin im Casaleon gespielt. Das hatte ich aber leider erst im Nachhinein gehört. Zumindest weiß ich inzwischen, dass der Gitarrist der Spotnicks – Bo Winberg – die ganzen schnellen Parts der Stücke wirklich direkt gespielt hat – kein Schmu, nix! Respekt!!!
Die Shadows waren, wie weiter vorn schon gesagt, auch die Begleitband von Cliff Richard, der eigentlich ganz guten Rock'n'Roll sang, und somit konnten wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – guten Rock'n'Roll und fetzige Echogitarre im Hintergrund, und in der Mitte des jeweiligen Songs als Solo im Vordergrund.

Nach meiner Einsegnung spielte die Kirche nicht mehr die große Rolle in meinem Leben, die wurde stattdessen inzwischen von der Fender Stratocaster übernommen. Ich betete sie nicht gerade an, aber so ungefähr stellte ich mir den heiligen Gral vor.

Die Beschäftigung und der Aufenthalt der Jugendlichen zu dieser Zeit wurde inzwischen von den bezirklichen Jugendheimen oder auch Jugend-Freizeit-Heimen übernommen. Sie stellten Räume und Personal und bemühten sich nach Kräften, Kind- und Jugendgemäßes anzubieten. Wir sollten wohl in unserer Freizeit möglichst nicht auf die schiefe Bahn oder unter die Räder kommen, wie es so hieß.

Bands schossen in diesen Jahren ab 1960 wie Pilze aus den Böden, und da Bands Übungsräume brauchten, in denen es auch mal laut sein durfte, hatten Jugendheime natürlich DAS Passende. Wenn sie für uns lockende Angebote hatten, dann waren es Räume!

Mein Jugendheim war das Jugendheim Rathausstraße in Berlin Mariendorf. Hier war es auch möglich, andere Musiker, die man persönlich gar nicht kannte, und andere Bands kennenzulernen, indem man einfach an eine der zahlreichen Türen klopfte und fragte, ob man mal zuhören durfte. Meistens durfte man! In der Rathausstraße übten immer die Country Stars, die Team Beats und manchmal Heinz von den Boots ganz alleine an seinem Schlagzeug. Was der Schlagzeuger von den Ventures als Intro zu Walk, Don't Run spielte, übte Heinz hier hintereinander weg stundenlang. War auch eine schwierige Nummer, denn bis heute habe ich keinen Trommler gehört, der das lupenrein spielen konnte – bis auf Peter von den Team Beats, aber dazu später...

Die Country Stars hatten einen Gitarristen – ich habe erst meinen Augen nicht getraut – der eine echte Stratocaster hatte. Und spielte. Der Typ hieß Achim Altstadt wird aber bis heute Henk genannt, und er stand bei mir von der ersten Begegnung an in hohem Ansehen. Na klar! Er war so ungefähr sechs, sieben Jahre älter als ich, und das war damals für mich eine gefühlte Generation weiter weg. Er hatte eine eigene Wohnung und eine Freundin und war kein Jugendlicher mehr. Er interessierte sich offensichtlich und hörbar für dieselbe Musik wie unsereiner. Ich weiß nicht mehr, mit welchen beiden meiner Freunde wir dann bald zu ihm pilgerten – er hatte angeboten, ihn ruhig mal zu besuchen. Da war sie dann endlich! Die Strat! Eine echte!

Von nahem – wir durften sie wirklich in die Hand nehmen und sogar darauf spielen – sah ich nun die filigranen Einzelheiten dieses heiligen Grals, die man auf Abbildungen der damaligen Zeit nicht so genau erkennen konnte. Der Korpus war nicht einfach so aus einem gleichmäßig flachen Brett ausgesägt, nein, er hatte auch an einigen Stellen sauber abgeschliffene Einbuchtungen zur anatomisch korrekten Anpassung an den Beckenknochen und den unteren Rippenbogen des Gitarristen! Das muss man sich mal vorstellen! Leo Fender und seine Konstrukteure hatten sich bei der Konstruktion etwas gedacht! Die Gitarre war ergonomisch gebaut, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass es diesen Fachbegriff damals schon gegeben hat. Dazu kam, dass diese Strat in sunburst lackiert war, ein stufenloser Farbübergang von schwarzbraun über rot zu gelb.

Ich habe selten eine Gitarre so ehrfürchtig und übervorsichtig in die Hand genommen, wie diese Strat von Achim Altstadt.

Von nun an besuchten wir ihn öfter und begannen bald, mit ihm zu fachsimpeln, spielten uns gegenseitig unsere neuesten Fingerfertigkeiten und Techniken vor und konzentrierten uns hauptsächlich auf die erste LP der Shadows. Achim konnte alle Stücke nachspielen. Wir lernten damals so einiges von ihm. Nach meinen Maßstäben war er sowieso auf einem viel höheren Level als wir, und das lag nicht nur an seiner wunderbaren Stratocaster.

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