Praxisschock

Meine erste Unterrichtsstunde als Lehrer, irgendwann im September 1974.

"Guten Morgen, mein Name ist Dreymann, ich bin Euer neuer Gesellschaftskundelehrer" (Ich schreibe den Namen an die Tafel). Kursbuch aufklappen und die Anwesenheit kontrollieren.

"Dann nehmen Sie doch mal die Kerngruppe 8.13, die hätten jetzt Geschichte, die Feudalismuseinheit, Herr Kollege" hatte es geheißen.

Das Prinzip hatten sie uns ja an der Universität eingetrichtert: Moti­vationsphase, dann, auf dem entstandenen Schülerinteresse aufbauend, Wissen vermitteln, Übungs- und Anwendungsphase und zum Schluss den Lernzuwachs kontrollieren. Fachlich fühlte ich mich sicher.

Fachlich hätten wir als Schüler damals unseren Lehrern auch kaum das Wasser reichen können. Aber es gab eben immer auch Stunden, in denen wir nichts lernten, Krawallstunden wie bei Dr. Grunwald, oder Stunden mit Langeweile oder mit Angst.
Ich wollte das alles anders machen, verständnisvoll sein, "Ihr könnt ja mit mir reden. Wenn Ihr Probleme habt, könnt Ihr zu mir kommen, ich bin doch auf Eurer Seite ..."
Die Klasse würde es schon merken, wenn jemand nett und freundlich ist, außerdem - lange Haare und Jeans sind bestimmt unverdächtig...

Ich hatte Angst.

Mein Stundenentwurf war schon lange fertig und die wichtigen Stel­len hatte ich rot umrandet, Phasenwechsel, Methodenwech­sel, Me­dien, Leh­rerimpulse. Ein paar Sätze, die ich sagen wollte, standen vorsichtshalber wörtlich und auch mit rot umrandet da und links die genauen Uhrzeiten. 8 Uhr Begrüßung, Vorstellung und Anwesenheits-kontrolle: "Guten Morgen, mein Name ist Dreymann, ich bin Euer neuer Gesell­schaftskundelehrer" (Ich schreibe den Namen an die Ta­fel). Kursbuch auf­klappen und die Anwesenheit kon­trollieren. Ich hatte die Stunde schon ein paar Mal gehal­ten, in Gedanken, und sie hatte eigentlich je­des Mal geklappt.

Meine Angst nahm deutlich zu, je näher der Tag x kam, eine lampen­fiebrige Angst mit merkbar höherem Zigaretten- und Kaf­feekonsum. Um 8 Uhr war ich dran und um 5 Uhr war ich schon wach, ich ging die Stunde noch mal durch mit Zigaretten und Kaffee. Die Arbeitsbö­gen hatte ich schon lange vorher abgezogen, das Lehnswesen sollte rankommen, eine eigentlich todsichere Sache. Und witzig wollte ich ein­steigen mit "Wie hieß denn der Bun­deskanzler im Mittelalter?" Ich fuhr sehr früh los, es hätte ja unterwegs ein Verkehrsstau sein können oder das Auto springt nicht an oder ich finde keinen Park­platz, nichts von alledem. Der Hausmeister schloss gerade auf.

Ich hatte noch über eine Stunde Zeit. Im Raum 5.02.01 sollte alles stattfinden, ich ging schon mal nachsehen, ein Raum ohne Fenster, mit Klimaanlagenrauschen wie im gesamten Gebäude. Alle Stühle ordentlich hochgestellt, Schwamm und Kreide vorhanden, Tafel gewischt, zurück in den Lehrerstützpunkt Gesellschaftskunde. Die erste Kollegin kam, "Na, ist heute der große Tag? Wird schon werden, wir haben ja alle mal angefangen ..." Nach und nach kamen die anderen, ich hatte die meisten schon mal gesehen, und unterhielten sich über das Fernsehprogramm, das Wetter oder organisatorische Dinge, holten Kursbücher aus ihren Fächern und stapelten Arbeitsbögen. Kaffee und Zigaretten.
"Na, geht's heute los? Schon aufgeregt? Die 8.13 haben Sie? Sind nicht ganz pflegeleicht, aber Sie werden das schon machen, toi, toi, toi..." Schreck, das Klingeln, es ist aber erst Viertel vor, die Schüler dürfen ins Gebäude. Zwei Jungen klopfen an die offene Tür "Ist Herr Hellwig mal da? Wir sollen das Epi holen."
Sie schieben den Rollwagen raus, ganz nett eigentlich, kein Grund zur Angst, denke ich mit trockener Kehle.

Ich nehme die Umgebung nicht mehr im Normalzustand wahr. Nur noch flüchtige Eindrücke, diffuse Gesprächsfetzen, Prospekte von Lehrmittelinstituten auf den Tischen, der Kartenstän­der, draußen vor­beilärmende Schüler, eine schnei­dende Männer­stimme "Ist hier bald mal Ruhe, sonst könnt Ihr mich mal ken­nen lernen!" "Wie sieht denn das hier wieder aus, heb' das Papier auf!" "Das war ich aber nicht." "DU HEBST DAS SOFORT AUF !" Grabesstille draußen. Ein paar Kollegen um mich herum grinsen. Es ist fast acht. Ich nehme mein Kursbuch mit den anderen Pa­pieren darin und gehe mit forschen Schritten raus in den Flur, nach links, fünf drängelnde Klassen vor ihren Räumen mit Schubsereien und ein paar Mappen, die den Weg versperren. Hier und da Beine von Schü­lern, die auf dem Boden sitzen, ich mache große Schritte darüber hin­weg, meine Klasse steht ganz hinten links, sie verhalten sich wie alle anderen auch. Als ich mit Kursbuch und Schlüssel in der Hand auf ihre Tür zu­gehe mer­ken sie, was los ist "Wer sind SIE denn?" Ich lächle un­echt und schließe auf. Sie toben an mir vorbei in den Raum und reißen die Stühle von den Ti­schen, ein paar davon knallen hörbar auf den Boden.

Ich schließe die Tür hinter mir, Gedankenfetzen blitzartig und alle durch­einander, schweißige Handflächen, ob sie das wohl merken, sie müssen das doch sehen, hoffentlich nicht, und die Un­ruhe in meinem Rücken, ich drehe mich um und suche den Lehrertisch da ganz hinten irgendwo, während ich penetrant freundlich oder leutselig langsam in die Runde blicke, keinen richtig sehe, nur bunte Körperkulissen und Bewegungen, unsi­cher, wie nach Alkohol aber nicht gelöst, peinlich und nicht ich selbst, wie in der Tanz­stunde damals als ich ausgerutscht bin, ich bin schon viel näher am Lehrer­tisch und meine Stun­denplanung ist aus dem Kopf, Angst, wir haben damals ein paar neue Lehrer zum Brüllen ge­bracht, zu Klassenbucheinträgen pro­voziert, und gerade ich bin so ein Schüler gewesen.

Ich drehe mich zur Klasse, stehe irgendwie un­geschickt schräg, weiß auch nicht genau, warum ich mich nicht setze, bleibe oben, will wohl den Über­blick oder dass sie mich alle sehen kön­nen und vielleicht Re­spekt haben, ru­hig sind, endlich ruhig sind.

Keine Reaktion, als ob ich nicht da bin.

Ich warte wohl erst mal von wegen Beruhigung und Ad­renalin, es muss ja jetzt irgendwas passie­ren. Sie wühlen über und unter den Tischen und klop­pen sich, werfen mit ir­gendwelchen Sachen, la­chen schrill und versuchen sich ge­genseitig zu über­schreien, blinzeln manchmal in meine Rich­tung aber ohne ir­gendein Anzei­chen von Erwar­tung oder Respekt, ich nestle an dem Kursbuch herum, als hätte ich da noch was zu er­ledigen, kann dadurch wenigstens die Augen senken.
Ob das draußen zu hören ist, dieser Lärm? Wo ist der Stun­denentwurf, ich stehe immer noch irgendwie da, blätternd, finde ihn dann mit feuchten Fin­gern, "Guten Morgen, mein Name, ich bin Euer", wie sollen die mich hören, es kuckt kaum jemand, ob ich laut werden soll?

"Guten MORGEN, mein Name ist DREYMANN, ich bin Euer neuer GK-Lehrer" höre ich meinen Mund und stehe schnell mit dem Rücken zu ihnen, schreibe, die Kreide bricht, den Namen, "Wie heißen Sie? Dreifuß, Ein­mann, Zweifrau", genau wie frü­her in der Grundschule, oder immer wenn ich in einer neuen Klasse als Schüler meinen Na­men sagen musste, Kichern, oder nein, eigent­lich meckerndes Lästern, ich drehe mich um, es muss ja ir­gendwann doch mal losgehen und ich habe wohl immer noch das Krampflä­cheln im Ge­sicht, bloß nicht zu­rückschlagen, nicht autori­tär sein, nicht schimpfen, nicht mal böse kuc­ken, nicht so sein, wie die Lehrer und Lehre­rinnen damals, aber ich bin doch nicht so ei­ner, wieso ist die Klasse dann so, ich will doch freundlich mit denen umgehen, "...hat man Sie mit DEN Haaren über­haupt als Lehrer zuge­lassen?" Hitze wallt hoch, wie reagiert man jetzt, ich kann mich wenig­stens mit meinen Augen an dem Fragesteller festmachen, "Ich bin Euer neuer GK-Lehrer" sage ich und meine Kehle, überhaupt alles im Mund ist trocken, klebt aneinander. Ich setze mich ir­gendwie beiläufig schräg auf die Tischkante, beuge mich ein bisschen nach vorn, will wohl Zuge­neigtheit zeigen, nicht wie es mir wirklich geht, wenn sie Angst mitkriegen lachen sie mich aus, ich muss hier was leisten, wenn sie Unsicherheit mitkriegen machen sie mich fertig, in der Uni war das immer völlig anders, ich bin doch kein autoritärer Leh­rer, wenn ich nett bin werden sie mich schon verste­hen.

Ich warte immer noch und suche eine Lücke in der Lärmkulisse, ich will jetzt anfangen, was mache ich, wenn es keinen stillen Moment gibt? Ich warte unruhig, es steigt Wut in meinen Hals, jetzt nicht aus­rasten, nicht alles ver­derben, oder vielleicht nur mal jetzt am An­fang, damit ich überhaupt was sagen kann, ich kann's ja später wieder zu­rücknehmen oder ihnen erklären, ich darf nicht wütend sein, ich lächle mit Schweiß auf der Oberlippe und ei­gentlich überall. Einer zieht ei­nem Mädchen den Stuhl weg, muss ich jetzt nicht helfen, sie könnte sich verletzen, ich klebe am Tisch, mein Oberkörper wippt etwas vor und zurück, sie la­chen brüllend schadenfroh über das Mäd­chen, das sich nun heftig auf den Fußboden gesetzt hat. Sie steht auf und ver­sucht dem Jungen eine zu knallen, er rennt weg über seinen Tisch, kommt in meine Nähe, ich halte ihn fest, am Oberarm, wohl doch mit Ge­walt, das Mädchen erreicht uns und ich flüstere mit beiden, die Klasse starrt gespannt in meine Richtung, was macht der jetzt wohl, ich will kein Aufse­hen, flüstere "Jetzt setzt Euch bitte beide ruhig wieder hin ..." hebe dabei wohl die Augen­brauen, "ABER DER HAT ANGEFANGEN" schreit sie, "Du setzt Dich bitte auch hin" versuche ich verzweifelt unter Aus­schluss der „Öffentlichkeit“ zu flüstern.
"Is ja unjerecht hier, ge­bense dem doch 'n Ein­trag" ..."Ja, sorgense mal für Ruhe..." brüllt von irgendwo einer, lautes La­chen in einer anderen Ecke. Die beiden setzen sich, kloppen sich aber im­mer noch ein biss­chen, das ist jetzt der Mo­ment, denke ich, "Ich bin also Euer neuer GK-Lehrer" und klappe das Kursbuch auf: "Angermann" - "Hier" - "Apitz" - "Hier hängter" - "Böhm" - "Fehlt" schreien mehrere und das Ge­murmel schwillt wieder an, "Berger" - ..."BÄRRGÄRR" - eine Mädchenhand zeigt sich - "Bylik" - "BYLITSCH heiße ick !" Lachen, - "Cabriolet" tosender Lärm, Brüllen "Tschabrilo heißt der, können wohl nicht le­sen?" Die Tür geht auf, ein Junge stutzt kurz, setzt sich dann hin, die Tür knallt laut zu, "Wer bist Du denn?" - "Wer sind Sie denn?" - ich merke meine Aggressionen immer heftiger - "Jetzt werde hier nicht frech, warum kommst Du erst jetzt?" "Ich musste noch mit Frau Wabke sprechen --!" "So, und wie heißt Du nun?" "Köhler, ge­nannt Schummi, Herr Lehrer!"
Wieder das allge­meine Brül­len, ich versuche es zu ignorie­ren, "Daberkow" - "Hier" - "Delenschke"-"Hier hängter!"

-"Also jetzt reißt Euch mal `n bisschen zusammen -Dietrichs" - eine Hand - "Greinert" -"Is nich mehr da, is in de Sonderschule jekomm', oder inne Klaps­mühle" - "Könnt Ihr nicht mal ein biss­chen leiser sein?" - "Machen Se sich nüscht draus, da ham sich die andern ooch schon dran jewöhnt!" - Höh­nisches Lachen "Sehn Se sich lieber vor, wir ham schon janz andere fertich je­macht ..." - "Heinrich" - "Hier hängter" - "Müller" - "Welcher ?" - "Müller, Peter" - "Der kommt immer ne Stunde später, is'n So­zialfall" - "Müller, Wolf­gang" - "Jestorben" -- schallendes Mec­kern -- "Ne, hier bin ick -" - sie ma­chen, was sie wollen, es ist schon eine Viertelstunde um, ich komme mit der Planung nicht mehr hin.
Die Tür geht auf, knallt bis an die Wand, "Tach Jevat­ter, ick musste meiner armen alten Oma noch Wein und Ku­chen bringen" --- Mein Schädel platzt fast vor Wut "JETZT WERD'HIER NICHT NOCH FRECH !" "Heißt Du Peter Müller?" - "Richtig, Meister, sind ja ein kluges Kerlchen ..." - ich versuche irgendwas herun­terzuschlucken - "Turan" - eine Hand - "Kutluay" - ein Finger - "Weber" - "Hier, icke!" - "Weinstein" --- "WEINSTEIN" - "Ja, ja, is ja jut, dit is so laut hier, man kann ja sein eigenes Wort nich verstehn!" - "Dann seid doch mal leiser ---" "Wörle" - "Fehlt ooch" - "Zeltner" - "ZU BEFEHL!" steht auf und salu­tiert - "Jetzt lasst mal diese Kinde­reien ..." "Jetzt werden se nich noch frech!" Wut im Bauch - "ICH SOLL WOHL IN MEINER ER­STEN STUNDE SCHON EINEN TADEL VERTEILEN ?!?!" --- "Tun Se sich keen Zwang an, sowat sam­meln wir" --- tosendes Gebrüll, Meckern und schallendes Lachen, minu­tenlang kommt es mir vor, nicht aus der Rolle fallen, es sind ja nur noch zwei Namen auf der Liste, "Ziehran" - "Hier" - "Zorgesheim" - eine Hand.
Ich klappe das Kursbuch zu und lege den Fehlzettelblock hinten in den Lehrerkalender. Ich setze mich, fieber­haft überle­gend, suche die Unter­richtseinheit, alles durcheinander vor mir auf dem Tisch, die Geräuschku­lisse hebt wieder stark an, ich muss mich da irgendwie durchkämpfen, "Greifen Se doch mal durch!", - da ist die Einheit, jetzt müsste ich fragen, wie der Bun­deskanzler im Mit­telalter geheißen hat, aber ich traue mich nicht, die nehmen mich nicht ernst, die sitzen hier ihre Zeit ab, benutzen mich für ihre Witzchen, ihre Belustigungsspielereien, ich bin viel schwächer als sie, sie sind in der Über­zahl, aber ich bin doch er­wachsen, erfahrener, - ich kann doch zeigen, wo es langgeht, warum lasse ich mir das überhaupt bieten, ich bin doch viel stärker als sie, die Stunde werde ich schon irgendwie über­leben, wenn ich sie nicht nach Planung über die Bühne kriege, merkt das ja von den Kollegen keiner, noch fünfund­zwanzig Minuten bis zur Pause, wie mache ich das denn jetzt ?

Ich stehe energisch auf, es wird aber trotzdem nicht leiser, "Würdet Ihr mal bitte zuhören?" --- "WÜRDET IHR MAL BITTE ZUHÖREN !!!" ----- "RUHE, JETZT REDE ICH UND SONST NIEMAND !!!" ----- "RUUUHE!" -----

Es wird tatsächlich ein merkbares Stückchen leiser und ich bin davon über­rascht, blitzschnell muss ich jetzt was sagen, sonst machen die so­fort mit ih­rem Lärm weiter. Der Bundeskanzler kommt mir jetzt al­bern vor, in Sekun­den rennen diffuse Gedan­ken durch meine Stirn, Ideen, - schweißnass, alle untauglich, ich verwerfe sie, muss schnell was sagen.

"Also dann fangen wir mal an, „äh, sagt mal, wie hieß denn der Bun­deskanzler im Mittelalter?" - Kichern, Lachen, Meckern, "Höh, höh, sind wohl ein Witzbold?".
Da war der Satz, den ich eigentlich mal sagen wollte und nun doch nicht mehr. Er ist einfach rausgekommen, ich hätte ja auch gar nicht mehr etwas anderes konstruieren können, aber er ist von selbst ge­kommen, ungesteuert. Die Anspannung setzt mich außerstande, ziel­gerichtet und kreativ zu den­ken. Überhaupt - das Denken - diese voll­kommen unerwartet massiv vor­handene und lebende und handelnde Kindermasse, die wir nie an der Uni gehabt haben, das Leben in Form von Schülern führte durch ihre Über­motorik und das gleichzeitige Vorhandensein von fünf­undzwanzig Indivi­duen, und durch den Um­stand, dass sie ja fast alle gleichzeitig irgendwas ta­ten, dazu, dass ich keinen Augen­blick zum Denken fand. Ich hätte meinen Kopf in Win­deseile ständig hin und her drehen müssen, um ihre Aktionen und Reak­tionen zu erfassen.

(Schwarmverhalten gegen einen Beutegreifer sichert das Überle­ben durch ein wirres und im Ernstfall blitzschnelles Auseinan­derstieben in möglichst viele verschiedene Richtungen, um den Angreifer zu irritie­ren und um ihn ins Leere schlagen zu lassen. Beide Reaktionen, das blitzschnelle Zustoßen und das konfuse Auseinanderstieben erfolgen rein instinktgesteuert.)

Ich sitze immer noch auf der vorderen linken Lehrertischecke mit dem schwitzend gequälten Lächeln und warte, dass irgend­woher eine ernst­zunehmende Reaktion auf meine Impulsfrage kommt, irgendwas und sei es noch so dämlich, um einzuhaken, weitermachen zu können. Jetzt bietet mir doch bitte diese Über­lebensmöglichkeit. Wie soll ich sonst weitermachen? Ich kann doch die Frage nicht noch selbst be­antworten. Dann wäre ich ja wieder am Anfang. Dann hätte ich ja zwanzig Minuten lang sinnlos einem Chaos gedient, alles vielleicht noch verschlechtert. Vielleicht sollte ich ein­fach rausgehen und noch mal herein­kommen, alles noch mal, - Schnitt - zweiter Versuch, Ge­schichtsstunde - die zweite - Klappe - Action bitte - oder so ähn­lich. Reinen Tisch machen, als sei nichts gewesen ?

"Du da hinten", ich kann ja auch nicht mit ihren Vornamen han­tieren, kenne sie nicht, "mit dem blauen Pulli", sie sieht mich nicht an, kann nicht wissen, dass sie gemeint ist.
Ich suche Blickkontakt im Umkreis, wer mir in die Augen sieht ist dran. Zwei, drei, fünf gucken, aber eigentlich auch nicht zum Ran­nehmen, eher ablehnend, geringschätzend oder sogar provozie­rend. Ich blicke den weni­gen Sehern abwechselnd in die Augen, ohne Worte, auffor­derndes Erwar­ten. Nichts außer Unruhe, Geräusche, Stimmen.

Plötzlich eine Hand, ein Arm irgendwo aus unerwarteter Ecke mit daran schlaff herunter hängender Hand! Ich beuge mich wohlwollend, ermunternd schräg nach links, zeige mit offe­ner Hand, Handfläche nach oben in ihre Richtung. "Bundeskanzler gab es da nicht..."
Während sie spricht suche ich meinen rot umrandeten Folgeim­puls in der Unterrichtseinheit, voller Hoffnung, nervös, geht die Stunde jetzt doch noch --- "Hm, prima, aber wie haben die denn dann ihr Land damals regiert?"
Zwischenruf von Schummi (kam zu spät, ist frech gewesen, schon hat man den ersten Namen gelernt !) "Na, die hatten eben `nen König..." - "Gut, richtig!" -
Ich gehe zur Tafel, klappe auf und schreibe oben in die Mitte groß König, also mindestens zehn Zentimeter groß, wie ge­lernt.
Im Umdrehen sehe ich noch den Rest einer Armbewegung, die sich zurück­zieht, und auf dem Teppichfußboden und den Tischen prasselt es. Überall liegen verstreut Gummibärchen herum, die Klasse gröhlt, viele greifen nach den Bärchen, bücken sich, kauen, die Werferin macht auf unbeteiligt, ob­wohl das anerken­nende Gejohle unübersehbar in ihre Richtung geht.

Da ist der erste dicke Konflikt - was mach' ich nun ? - zeigen, dass ich weiß, wer es war ? - und dann ? Brüllen ? - Eintrag ? - Tadel ? - Ermahnung ? - Verwarnung ? - geht es dann hart auf hart los mit mir und der Pädagogik ? Irgendwo ist die Grenze, muss sie sein, wo ist die Grenze ? Geht es im Unterricht immer an Grenzen - testen sie, wo bei mir die Grenze ist ?

Die Königsvasallen verschwimmen unwichtig im Abseits meiner ei­genen Aufregungen, die nah an meiner eigenen Grenze sind - wo ist meine eigene Grenze ?
Ich entscheide mich für eine Nichtreaktion, vielleicht geht der Kon­flikt ja noch glimpflich vorbei. Ich will keinen „Grenzkonflikt“, sage irgendwas über das Werfen im Unterricht, über Störung, über Ver­schmutzung des Teppichbodens, usw.

Jetzt ist die Stelle mit dem kurzen Lehrervortrag dran. Ich er­zähle ein paar Minuten lang über die Schwierigkeiten des Kö­nigs, ein großes Land zu re­gieren, besonders was die entfernteren Landesteile betrifft, mit zwischen­durch mehrmaligem "Seid doch mal leiser", "Nicht so laut bitte", oder mit demonstrativ eisigem Schweigen in Richtung des jeweiligen Störers.

Sie hören nur zu wenn sie Lust dazu haben, die meisten hören wohl nicht zu. Nur bei Blickkontakten mit einzelnen reagieren diese mit Zuhörerhal­tung. Wenn man mir nicht ins Gesicht sieht, bin ich offen­bar auch nicht an­wesend.

Das Sehen verpflichtet den Seher und zwingt ihn in die von mir vor­gegebene Kommunikationsstruktur.

Deshalb weichen wohl auch viele meinen Blicken aus. Aber wenn ich je­mand im Blick habe, dann funktioniert er auch als Empfänger. Nur, es sind fünfundzwanzig, und meine Augen wandern nervös zu den Kopfsilhouetten von links nach rechts, und ich will Blicke fangen, verliere dabei die, die ich schon hatte, und die Anzahl der Nichtseher bleibt deprimierend hoch.
Ich stehe hier vorn in einem großen Kreis mit einem Ball in den Hän­den und suche jemand, dem ich ihn zuwerfen kann, und immer wenn meine Arme eine Wurfbewegung in eine bestimmte Rich­tung andeu­ten, dreht sich der damit gemeinte um, weg von mir. Ich habe das Gefühl, dass ich von allen aus den Augenwinkeln beob­achtet werde, obwohl ich manchmal fast nur noch Hinter­köpfe sehe und ich bin mir sicher, dass sie es sofort sehen wür­den, wenn ich mich plötzlich „wegbeamen“ könnte und stattdes­sen ein „Alien“ weiterma­chen würde.

Irgendwann bin ich mit meinem Vortrag bis zu den Königsva­sallen gekom­men und ich sage laut "Königsvasallen" - Kehrt­wendung zur Tafel, sekun­denkurze Erholungspause durch das Schreibenmüssen - ich schreibe in die Tafelmitte mit Abstand unter den König die Kö­nigsvasallen, zehn Zentime­ter hoch mit nicht abbrechender Kreide.

Diesmal drehe ich mich instinktgesteuert blitzschnell um und sehe, wie die Werferin von vorhin mit beiden Händen gerade eine große Menge Gum­mibärchen durch den Klassenraum wirft !

Prasseln, Gröhlen, Bücken, Kauen - ich höre mich ziemlich laut: "Das ist ja eine Unverschämtheit, was denkst Du eigentlich, wer ich bin, habe ich nicht vorhin ausdrücklich gesagt......."

Die Klasse hat plötzlich Interesse, alle blicken in meine Rich­tung, was jetzt passiert ist abwechslungsreicher als die eigenen Schwatzereien, es muss ja was passieren. Ich habe es gesehen und alle haben gesehen, dass ich es gesehen habe. Die Werferin, Rita heißt sie, kann sich auch nicht mehr in der Anonymität ver­stecken. Der Grenzkonflikt - jetzt haben sie mich da, wo ich nicht hin wollte.

Blitzschnelle Disziplinierungsüberlegungen, ich will nicht wie meine Lehrer reagieren; warum provozieren die mich genauso wie wir das damals getan haben, ich will nicht strafen, durchgrei­fen, disziplinie­ren, kein Pauker sein, partnerschaftlich mit ihnen umgehen - diese verdammten....., haben es dann eben nicht an­ders verdient, wenn ihr es so haben wollt, bitte sehr, ich war im­mer nett und freundlich zu Euch, meine Schuld ist es ja nicht... "Also pass mal auf, Rita, ich notier' mir jetzt hier Deinen Namen, und wenn von Dir noch irgendwas kommt, was mir nicht passt, kriegst Du einen Tadel - Ihr seid Zeugen!"
Gemurmel, vielsagende Gesichter überall, Rita schweigt betre­ten.
Es geht weiter über die Königsvasallen, und Dienst und Treue und Schutz und Treue bis zu den Untervasallen und es kommt mir vor, als ob die Un­ruhe weniger geworden ist. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein und mein wütender Augenblick hat nur meine Augen und Oh­ren von einem Druck befreit. Jedenfalls gibt es bei dem Begriff "Aftervasallen" zwar verein­zelte Gröhler aus der Fäkalsprache aber es ist nicht mehr so, dass die ge­samte Klasse so­fort mitjohlt. Ich drehe mich wieder zur Tafel und schreibe Dienst und Treue und Unter­vasallen und zeichne Pfeile von hier nach da und au­ßen herum die Pyra­mide. Dann die Überschrift und ich gehe zwei Schritte zu­rück, um mein Ta­felbild zu begutachten. Als ich dabei gegen meinen Stuhl stoße, wende ich den Kopf und - ich glaube es einfach nicht - Rita wirft schon wieder!-

"So, jetzt reicht’s ! - Tadel !!!"

Ich platze fast vor Wut, mache aber äußerlich auf cool. "Ich hab's Dir ja gesagt, Ihr seid Zeugen gewesen..." Grabesstille - Rita legt das Gesicht auf die Unterarme auf dem Tisch, ich schreibe in das Kursbuch und lese laut dabei "....trotz mehrfacher Ermah­nungen und erhält hiermit einen Tadel." Plötzlich tosender Beifall, alle klatschen in die Hände in meine Rich­tung, Rita heult leise.

Mein erster Erfolg, ich fühle mich bestätigt, sie stimmen mir zu, sind ein­verstanden mit dem, was ich getan habe, ich bade in dem Beifall, versuche mit vorsichtig herunterdrückenden Handbewe­gungen den Lärm zu be­schwichtigen. Ich werde ernst genom­men. Ich bin jemand. Stress fällt ab von mir, ich habe plötzlich verwundert das sichere Ge­fühl jetzt Unterricht machen zu können, wie es geplant war.
Ich hole die Arbeitsbögen hervor und frage, ob sie jemand ver­teilen möchte - acht (!) Hände, auch Schummi, er kriegt sie, ich habe so ein merkwürdiges Gefühl von sich verstehen, von Aner­kennung-bekom­men-wollen-und-haben was Schummi betrifft, und er spielt mit, er verteilt für mich.

Mein Lehrervortrag in schriftlicher Kurzfassung und auf der Rück­seite die Lehnspyramide ohne die Begriffe und die Pfeile. "Übertragt mal jetzt bitte das Tafelbild" - alle suchen nach Stif­ten und Lineal, Rita schluchzt noch leise mit rotem Gesicht.
Es ist zum ersten Mal eine Arbeitsatmosphäre, und Ruhe. Alle schrei­ben, mein Stress verschwindet, ich gehe herum, sehe über Schultern, bin plötzlich ein Lehrer, kann mich vorbeugen und hilfreiche Ratschläge geben, sie hören mir zu. Für die Überprüfungsphase bleibt keine Zeit mehr, es ist mir auch egal, ich habe zum ersten Mal das zufriedenstellende Ge­fühl etwas gegeben zu ha­ben, das nun von einer Klasse verar­beitet wird, das in ihr Wissen aufge­nommen wird.

Aber da ist noch Rita. Sie rührt den Arbeitsbogen nicht an, war die Verliererin in dem Spiel Unter­richt. Bin ich der Sieger ?

Es klingelt. Alle raffen mehr oder weniger hastig ihre Utensilien zu­sammen und stürzen eilig hinaus in die Pause, Rita sehr lang­sam. Ich bleibe in der unordentlichen Umgebung, alle Tische und Stühle sind mehr oder weniger verschoben, teils umgekippt, und ich setze mich erst mal.

Ruhe plötzlich und endlich.

Ich schreibe langsam in das Kurs­buch, stehe auf, wische die Tafel und klappe zu. Ein Blick auf den Tatort, ich habe eine Schlacht gerade so überlebt, bin kör­perlich ziemlich fer­tig, jetzt erst merke ich die Anstrengung der Stunde. Draußen ist es ruhig, alle sind auf dem Hof. Ich rücke die Möbel zurecht, nehme meine Sachen, knipse das Licht nach einem letzten Rückblick aus und schließe die Tür hinter mir ab.
Rechts am Ende des dunkleren Flurs ist die helle Türöffnung des Leh­rerstützpunktes, diese Bezeichnung bekommt für mich plötz­lich eine andere Bedeutung, als vorher.
Ich hebe den Kopf und gehe lässig, beiläufig und ganz normal hinein. Meine Kehle ist aus Sandpapier, ich bin schweißnass und suche einen Sitzplatz. "Na, wie war der Anfang?" - "Ach, ganz nett" - "Na seh'n Sie, ist alles nur halb so schlimm".
Ich gieße einen Becher bis zum Rand voll Kaffee und zünde gleich­zeitig eine Zigarette an. Die anderen schwatzen und wit­zeln oder schreiben, als sei nichts gewesen und ich mache eben­falls äußerlich auf small talk, während ich versuche, die in­nere Aufgewühltheit ab­klingen zu lassen. Ich merke, dass ich körper­lich geschafft bin, wie früher nach einem ganzen Tag auf dem Fruchthof, wo wir stundenlang Bananenstauden aus Kühl­waggons ausladen mussten. Alle anderen scheinen überhaupt nicht angestrengt gewesen zu sein. Über Unterricht wird nicht gesprochen, der scheint bei allen zu funk­tionieren. Ihre Gespräche und Bewegungen machen einen gelösten Eindruck, nur ihre Gesichter nicht immer.

Meine erste Stunde ist das Gegenteil dessen gewesen, weshalb ich mich mal für den Lehrerberuf entschieden hatte. So hatte ich damals Unterricht oft erlebt. So wollte ich ihn auf keinen Fall machen. Hat sich Schule nicht ver­ändert, überhaupt nicht, seit den fünfziger Jahren ?

Die Stunden mit den gewalttätigen Lehrern hat es damals noch häufi­ger ge­geben. Gibt es nur die beiden Möglichkeiten ? Ent­weder Chaos oder Unter­drückung ? Die Unterdrücker haben zu­mindest immer eine Grabesstille in ihren Stunden produziert, ha­ben vermutlich nie im Unterricht gelitten, nie schweißgebadet am Ende den Klassenraum verlassen. Ich weiß aber immer noch, dass ich bei denen vor lauter Angst ziemlich wenig gelernt habe. Aus Angst vor dem Drankommen habe ich mich letztendlich dann doch verhas­pelt, wurde daraufhin natürlich herablassend, oder auch oft beleidigend vor der Klasse bloß­gestellt - "Klaus, stehen Sie nicht so in den Kniekehlen vor der Karte, ist ihre Freundin etwa kleiner als sie ?" - Die Klasse lachte dann im­mer dem Lehrer zum Munde, egal, wer gerade fertig gemacht wurde, vielleicht auch, weil es sie selbst gerade mal zufällig nicht er­wischt hatte.

Warum und wie hat es aber mal einen Lehrer gegeben, den wir alle geliebt haben, der nie laut und gewalttätig gewesen ist, bei dem ande­rerseits aber auch nie Chaos geherrscht hat und bei dem wir aus Lust vieles gelernt ha­ben, ja bei dem wir es sogar nicht mal erwarten konnten, dass er endlich in den Unterrichtsraum ge­kommen ist ? Was hat er anders gemacht ?

Im Lehrerstützpunkt ist niemand, mit dem ich mich traue, dar­über zu reden. Auch der Fachbereichsleiter ist da. Der wird mich bald im Un­terricht besu­chen, mich beurteilen, darüber befinden, ob ich für diesen Job geeignet bin, oder nicht. Ich kann ein Ver­sagen nicht zugeben, bei allen anderen klappt es ja offenbar gut.

Die dritte Zigarette. Morgen muss ich wieder in die 8.13. Ich habe einen Tag lang Galgenfrist und meine Angst ist größer als vorher. Einen Unterricht wie diesen heute werde ich nicht lange durchhalten kön­nen, physisch und auch psy­chisch nicht.. Wenn ich nicht schnellstens her­ausfinden kann, wie man partner­schaftlichen Unterricht macht, habe ich ei­gentlich nur noch die beiden Alternativen: Abbruch des Versuchs ein Lehrer sein zu wollen, oder gewalttätig zu werden um unbeschadet überleben zu können.....

Beides kann und will ich nicht.

Bloß nach Hause und schlafen.....