Nachkriegskind

Ottilie Helmboldt, eine ansehnliche Frau im Dörfchen Steina im Südharz, verliebte sich in den Schuster Anton Launstein und bekam aus dieser Beziehung einen Sohn – Heinz, geboren am 22. Februar 1920.
Die Beziehung zu dem Schuster wurde von ihren Eltern, Friedrich Helmboldt und Rosalie Helmboldt, geborene Schinkel, nicht toleriert und Ottilie musste, um der Familie keine Schmach zu bereiten, mit ihrem unehelichen Sohn das Dorf verlassen.

Sie traf dann den Bauern Eduard Dreymann im Nachbardorf Osterhagen, der dann auch sie heiratete. Ab sofort trug sie den Namen Ottilie Dreymann, und ihr Sohn hieß Heinz.

Im Frühjahr 1945, im März, war eine Flak mit Besatzung unter Leitung von diesem Heinz Dreymann in der Buckower Chaussee 9 in Lichtenrade stationiert. Tagsüber brachte dieTochter Lieselott der Kißners von nebenan aus der Nummer 8 immer mal Kaffee rüber...... Als die Flak dann abgezogen wurde und nach Italien verlagert wurde, war die Lieselotte "plötzlich" schwanger und gebar im Dezember einen Sohn, der Klaus genannt wurde, weil er einen Tag nach Nikolaus geboren wurde. Klaus Kißner, unehelicher Sohn der Mutter Lieselott Kißner.

Lieselott und ihre Eltern wussten den Namen des feschen Flakkommandanten und seine Heimatadresse im Harz in Osterhagen und sie nahmen Kontakt auf.

Melderegister vom 27.6.1946 in Osterhagen:
Ankunft Lieselott Kißner mit Säugling Klaus, 6 Monate alt, am 10.9.1946 beider Abreise.

Dieser Flak-Mensch - Heinz Dreymann - war inzwischen seit 15.3.1945 in Kriegsgefangenschaft bei den Amerikanern in Italien, und da die Postzustellung in diesen Tagen sehr schlecht funktionierte, bekam er den zehnten Brief vor dem ersten. Darin war immer die Rede von einem Klaus, mit dem er gar nichts anzufangen wusste. Nach seiner Entlassung heiratete er die Lieselott. Von da ab hieß ich dann Klaus Dreymann, "wie sich das gehört".

Die ersten Jahre waren rückblickend gesehen eine Idylle im Haus mit Garten in Lichtenrade. Freunde in der Nachbarschaft. Ein Bruder nach drei Jahren, eine große Familie und der Dezember war immer (neben dem Sommer) die schönste Zeit des Jahres für mich: Nikolaus, Geburtstag, Weihnachten, Silvester. Manchmal fuhren wir in den Harz auf den Bauernhof der Oma Ottilie, die noch zwei weitere Söhne hatte. Einer davon hatte 3 Kinder, sodass wir fünf Gleichaltrige waren, die in Feld und Wald, am Teich und auf dem Hof rund um die Uhr spielten. Und wenn mal Hausschlachtung war (woran wir damals noch nicht von Anfang an teilnehmen durften), gab es an diesem Tage das leckerste Essen der Welt! Für mich wurde damals ein Großteil meines Geschmacks (auf der Zunge!) geprägt. Die Osterhäger Leberwurst war die leckerste der Welt usw. Es gab Schlachtesuppe mit Eierstich und Kesselfleisch dazu und – das muss man sich mal vorstellen für ein Berliner Kind zur Nachkriegszeit! – wenn es mal Fleischrouladen gab, dann stand da eine Schüssel auf dem Küchentisch, in der waren bestimmt 15-20 Rouladen, obwohl nur 6-10 Personen am Tisch saßen! In Lichtenrade war z.B. die Zahl der Schnitzel – wenn es denn mal welche gab! – immer genau abgezählt!
Dort gab es sehr oft Quetschkartoffeln mit Hammelfleisch, an deren Geschmack ich mich heute noch gut erinnern kann. Anfangs reichte ich an unserem Küchentisch mit dem Kopf gerade so vom Fußboden bis an die Esstischplatte, und wenn ich mal um eine Schrippe mit Spiegelei bettelte - was ich sehr gerne und oft gegessen habe - dann hörte ich von Tante Ella von oberhalb der Tischplatte den Satz "Iss nicht so viele Eier, sonst wirst du übermütig!" - was ich damals nie so richtig verstanden habe.
Es gab sowieso während meiner Kindheit oft Sätze der Erwachsenen, deren Sinn ich nicht verstand. Ich habe zwar nie nachgefragt, aber andererseits ahnten die Erwachsenen wohl auch nicht, dass aus ihrem Mund manchmal für Kinder Unverständliches kam. Einmal kam ein Mann aus der Nachbarschaft zu Besuch, der seinen Hund mitbrachte. Dieser Hund legte sich dann auf unseren Wohnzimmerteppich auf den Rücken und streckte dabei alle vier Beine nach oben. Dadurch war auch sein Penis deutlich zu sehen. Tante Ella zischte ihn dann an mit den Worten "Na! So liegt man nicht da!" Warum war mir natürlich nicht klar...

Wir fünf Gleichaltrigen im Harz waren übrigens drei Jungen und zwei Mädchen, das ist nicht unwichtig, denn meine Cousine Gisela prägte damals – glaube ich heute zu wissen – wie die Graugänse von Konrad Lorenz, mein visuelles Frauenbild, das bis heute gilt: Wenn eine Frau eine ganz bestimmte Mundform hat, dann finde ich sie schön, oder zumindest interessant – (Das war so ein Mund, wie Katharine Hepburn ihn hat!) egal wie der Rest ist. (Na ja, nicht ganz! ;-)) Nach vielen Jahren weiß ich inzwischen, dass vieles in mir mit Prägung zu tun hat, resultierend aus meinen Früherfahrungen, aber auch aus späteren Erfahrungen mit starken Auswirkungen.
Ich glaube auch, dass mein Musikgeschmack und auch sonst der Geschmack aus Wurzeln kommt, die mir manchmal nicht mehr bewusst sind.

Die Harzer Dreymanns
Cousinen & Cousin
Wir alle fünf